Für die folgenden Betrachtungen wird ein Netz mit drei Abgängen und einem Erdschluss im Leiter 1 im Abgang A angenommen. Durch den Erdschluss wird der Leiter 1 auf Erdpotential gebracht und die Leiter-Erde-Spannung der beiden gesunden Leiter wird auf das √3-fache angehoben. Diese erhöhte Spannung treibt nun über die Leitungskapazitäten der gesunden Leiter einen um √3 erhöhten Strom gegen Erde. Der kranke Leiter liefert in den gesunden Abgängen keinen Stromanteil. Die Summe aller Ströme gegen Erde fließt über die Fehlerstelle und im erdschlussbehafteten Abgang im kranken Leiter wieder zurück zum Trafo. Werden die Summenströme der drei Leiter am Beginn der Abgänge und die Verlagerungsspannung UNE im Umspannwerk gemessen, so können die folgenden Aussagen getroffen werden:
- Die Summenströme in den gesunden Abgängen sind kapazitiv und eilen der Verlagerungsspannung UNE um 90° vor.
- Der Summenstrom im erdschlussbehafteten Abgang ist induktiv und eilt der Verlagerungsspannung UNE um 90° nach.
- Der Betrag des Summenstromes im erdschlussbehafteten Abgang entspricht der Summe der Summenströme der gesunden Abgänge:
|ISA| = |ISB| + |ISC|
Für die Erdschlussortung nach dem Oberschwingungsverfahren kann nun einerseits die Richtung des Stromes in Bezug auf die Verlagerungsspannung oder andererseits die Suche nach dem maximalen Strom verwendet werden.
Erdschlussortung im gelöschten Netz
Wird das Netz größer, so erreicht der Summenstrom über die Fehlerstelle Größenordnungen, bei denen einerseits ein bestehender Lichtbogen nicht mehr verlöschen kann und andererseits die Grenzwerte für die Berühr- und Schrittspannungen überschritten werden. Eine Reduktion des Stromes über die Fehlerstelle kann durch Zuschalten einer Petersenspule im Sternpunkt des Trafos erfolgen. Aus dem Bild 2 ist erkennbar, dass die Spannung U1N einen Strom über die Petersenspule und die Fehlerstelle treibt, der dem bisher betrachteten Strom über die Fehlerstelle entgegengesetzt ist. Durch eine geeignete Einstellung der Größe der Petersenspule kann der Strom über die Fehlerstelle bis auf einen kleinen Wirkanteil reduziert werden. Bei genauer Betrachtung fließen bei idealer Kompensation die Ströme der Leiter-Erde Kapazitäten direkt zur Petersenspule.
Durch die Petersenspule sind zwar die Verhältnisse an der Fehlerstelle verbessert, aber jene für die Erdschlussortung erschwert, denn bei idealer Kompensation wird nun auch am kranken Abgang der gleiche kapazitive Strom gemessen, als ob dieser Abgang gesund wäre.
Die einfache Unterscheidung zwischen induktivem und kapazitivem Strom, wie sie in isolierten Netzen verwendet wird, ist nicht mehr möglich. Im erdschlussbehafteten Abgang ist nur ein kleiner Wirkanteil hinzugekommen, für dessen Erfassung jedoch sehr große Anforderungen an die Genauigkeit der Wandler, vor allem in Bezug auf Winkelfehler, gestellt werden.
Entstehung von Oberschwingungsspannungen
Durch nichtlineare Lasten im Netz entstehen Oberschwingungsströme in den drei Leitern.
Da in der Last keine Verbindung zur Erde existiert, ist zu jedem Zeitpunkt die Summe der Lastströme gleich Null. Andererseits erzeugen diese Oberschwingungsströme Spannungsabfälle entlang der Längsimpedanzen des Netzes und vor allem an der relativ hochohmigen Trafoimpedanz. Diese Spannungsabfälle führen zu einer Verzerrung in den verketteten Spannungen U12, U23, und U31 . Durch die Symmetrie der Leiter-Erdkapazitäten ist in der Verlagerungsspannung UNE die Verzerrung nicht messbar. Dies bedeutet aber, dass im gesunden Netz bei symmetrischen Erdkapazitäten über die Erde bzw. über die Petersenspule kein Oberschwingungsstrom fließt, auch wenn die verketteten Spannungen große Oberschwingungsspannungen und die Leiterströme große Oberschwingungsströme enthalten.
Es soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass die Verzerrung in der verketteten Spannung im Wesentlichen durch den Spannungsabfall am Transformator erfolgt. Dadurch ist die verzerrte verkettete Spannung im gesamten Netzabschnitt vorhanden, egal ob sich der nichtlineare Verbraucher im Abgang A oder im Abgang B bzw. C befindet.